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Wie der Mittelstand seine Rolle in der Zukunft der Informationsverarbeitung findet, erklärt Bjöern Goerke.
Foto: Proalpha Der Autor Bjöern Goerke ist Chief Technology Officer der proALPHA Group. Outsourcing oder nicht, das war die Gretchenfrage früherer Jahrzehnte. Unternehmen wie Amazon oder Salesforce haben das Verständnis fürs zeitgemäße Computing gelegt. On-Premise oder Cloud ist dabei nur ein scheinbarer Gegensatz. Für die Zukunft geht es um die Schaffung einer modernen Datenökonomie.
Der Kern einer Unternehmens-IT ist klassischerweise alles, was zum Unternehmen „gehört“, ob dies nun robuste Mainframes sind, Serverschränke, Desktop-Rechner, die Maschinen mit ihren Rechnern in der Werkshalle oder das gesamte zugehörige Spektrum an Software-Lizenzen – und vor allem ihre Daten. Dies ist der gedankliche Ausgangspunkt der meisten CIOs und IT-Leiter. Sie denken an ihre komplexe IT-Architektur, die nicht zuletzt durch ihre historische Entwicklung an der einen oder anderen Stelle ein wenig bröckelt.
Dem gegenüber steht die glänzende Welt der großen Cloud-Service-Anbieter, auch Hyperscaler genannt, die durch ihre Software-Anwendungen und -Services auf Abo-Basis den Markt nachhaltig verändert haben.
Marc Benioff von Salesforce, einer der SaaS-Pioniere, beschreibt die Prämisse, der wir heute unterliegen: „Sieh immer voraus, was als Nächstes kommt. Und dann sei so flexibel, dich weiterzuentwickeln.“ Das klingt ein wenig nach Hellsehen, aber angesichts der Herausforderungen durch die aktuelle wirtschaftliche und geopolitische Lage sowie kommender gesetzlicher Anforderungen liegt er mit seiner Forderung wohl nicht so falsch.
Sprühen wir ein wenig Sidolin auf die Glaskugel und werfen zunächst einen Blick auf die Hyperscaler. Die großen Cloudanbieter mit SaaS-Angeboten sind Amazon Web Services (AWS), Microsoft Azure und Google Cloud Services. Hyperscaler werden sie deshalb genannt, weil ihre IT-Architektur auf stark schwankende Last optimiert ist, um sich jederzeit an eine rasch steigende Anzahl von Useranfragen anpassen zu können. Ihre hochautomatisierten Rechenzentren lagen anfangs in den USA, was zu Compliance-Problemen bei der Datenspeicherung führte. Doch heute ist jeder dieser Anbieter zumindest auch in Europa beheimatet. Es hat sich ohnehin ein Ökosystem herausgebildet, quasi eine „Lieferkette“ für Clouds, in dem ein Hyperscaler keineswegs ein Rechenzentrum von A bis Z realisiert, sondern mithilfe nationaler Netzanbieter und lokaler Colocation-Anbieter („Colocation“ = Bereitstellung von Rechenzentrumsflächen) seine Dienste etwa in Deutschland zur Verfügung stellt.
Auch mittelständische Unternehmen können also ohne weiteres SaaS-Angebote der großen Hyperscaler direkt wahrnehmen, etwa für Business-Intelligence-Anwendungen oder zur intelligenten Suche in den eigenen Unternehmensdaten. Im Sinne eines erweiterten, digitalen Ökosystems nutzen viele Mittelständler jedoch auch Applikationen von weiteren Software-Anbietern, die im Hintergrund bei Hyperscalern auf eine Anwendungsplattform oder Infrastruktur aufsetzen. Wir kennen inzwischen auch Platform-as-a-Service (PaaS) oder Infrastructure-as-a-Service (IaaS).
Die Marktforscher von Gartner gingen im Oktober 2023 davon aus, dass die weltweiten Ausgaben der Endnutzer, also sowohl Privatanwender als auch Unternehmen, allein für diese öffentlichen Cloud-Dienste bis Ende 2023 um mehr als 20 Prozent (von 490 Millionen auf etwa 592 Milliarden US-Dollar) steigen. Führend sind dabei SaaS, Infrastrukturdienste (IaaS) und PaaS.
Es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb Clouddienste für Mittelständler relevant sind. Die Technologie und die Performance, die hinter einigen Cloudanwendungen stecken, sind mit eigenen Bordmitteln nicht mehr zu stemmen. Clouds sind von der Computing-Power her immer auf dem neuesten Stand und in die Anwendungen fließen permanent neue Technologien etwa aus der Artificial Intelligence (AI) mit ein, deren Entwicklungsbudgets die Möglichkeiten eines Mittelständlers sprengen würden. So ist etwa die Integration einer Cyber-Security-Strategie zum Schutz der Unternehmensdaten in Zusammenarbeit mit den Experten des Hyperscalers in der Cloud wesentlich schneller und kostengünstiger zu realisieren als etwa eine On-Premises-Implementierung in Eigenregie.
IT-Leitende eines Mittelständlers müssen sich also überlegen, wo auf Clouddienste zurückgegriffen werden sollte. Hinzu kommt die User-Experience, ob beim eigenen Personal oder bei den Kunden, denn schließlich sind wir alle durch den einfachen und intuitiven Gebrauch von Smartphone-Apps verwöhnt und wollen dasselbe Erlebnis im Business-Umfeld haben.
Die Tiefe eines Eingriffs ist allerdings der technologie-kritische Faktor. Im ERP-Bereich zeigt es sich, dass man als mittelständisches Unternehmen einen evolutionären Pfad beschreiten sollte. Frontend-Anwendungen für Kunden und Partner lassen sich recht schnell Cloud-fähig umstellen, und dies ist oft auch schon geschehen. Je mehr es allerdings um produktionsnahe Prozesse geht, desto mehr verlangsamt sich die Geschwindigkeit, mit der Unternehmen einen Übergang in die Cloud vollziehen (siehe folgende Grafik). Hier gilt es, sich als Hersteller den Transformationsgeschwindigkeiten der Kunden anzupassen.
Bei all dem mögen sich IT-Verantwortliche an die Binsenweisheit erinnern, dass es keine Cloud gibt – es ist immer nur „der Computer eines anderen“. Aber wo speichert der „andere“ meine Daten? Wie sicher sind sie und wie vertraulich bleiben sie? Nutzt der andere meine Daten, um sie weiterzuverarbeiten, zu veredeln und damit dann eigene, kostenpflichtige digitale Mehrwertdienste anzubieten?
Die letzte Frage weist in eine Richtung, die heute oft als Argument für die digitale Transformation genannt wird. Sobald ein Unternehmen alles voll digitalisiert hat, von der Kern-IT über die Edge bis hin zum Shopfloor, lassen sich aus dem entstehenden Datensee ganz neue Erkenntnisse gewinnen (nicht zuletzt mithilfe von AI-Werkzeugen) und sogar gänzlich neue Geschäftsmodelle entwickeln. Auch die Zusammenarbeit mit Partnern und Kunden könnte ganz andere Dimensionen annehmen.
Bleibt die Frage, wie sich der technologische Vorsprung von Hyperscalern nutzen lässt, ohne sich gänzlich in ihre Hände zu begeben. Dies bringt auch den europäischen Gesetzgeber auf den Plan. Die Europäische Union will einerseits die digitale Transformation in Europa fördern, anderseits ihre Unternehmen gegen eine dominante Disruption von außen schützen – und natürlich auch die Rechte der Verbraucher wahren.
Als juristische Grundlage zum Teilen und Austausch von (Industrie)-Daten hat das Europäische Parlament den „EU Data Act“ beschlossen. Die Effekte könnten enorm sein: Nach Ansicht der Europäischen Kommission sind 80 Prozent der in der Industrie erhobenen Daten bisher noch ungenutzt. Sie rechnet damit, dass dies in etwa einem Volumen von 270 Milliarden Euro an zusätzlicher Wertschöpfung bis etwa 2028 entspricht, und eine neue Datenökonomie einleiten könnte.
Der Data Act soll sicherstellen, dass die Nutzer darüber entscheiden, was mit ihren Daten geschieht. Zudem soll der Data Act Unternehmen, die aufgrund ihrer Marktposition ihren Vertragspartnern überlegen sind, daran hindern, diese zu einseitigen Zugeständnissen zu zwingen. Und schließlich soll das Gesetz den Wechsel von einem Dienstleister zu einem alternativen Anbieter im Cloud-Business erleichtern.
Der eine oder andere hat vielleicht schon davon gelesen, wie die Bundesregierung die vom EU Data Act gelegte Basis in die Tat umsetzen will. Dies soll mittels so genannter „X-Plattformen“ geschehen, die eine geregelte Nutzung und den Austausch von Industriedaten ermöglichen sollen. Eine wichtige Rolle für die Fertigungsindustrie soll Manufacturing-X übernehmen, bei der mit rund 50 Partnern aus Wirtschaft, Forschung und Verbänden eine digitale Plattform für föderative Datenräume in diesem Industriezweig aufgebaut werden soll. Während Manufacturing-X branchenübergreifend für die Industrie (von den Ausrüstern beziehungsweise dem Maschinenbau über Automotive bis hin zur Prozessindustrie) ausgerollt werden soll, ist Factory-X speziell für die deutsche Kernindustrie Maschinenbau gedacht, also das Pendant zu Catena-X für die Automobilbranche. All diese X-Plattformen befinden sich allerdings gerade erst in der Konzeptionsphase.
Wie kann nun der Mittelständler für sich die Weichen für diese neue Datenökonomie stellen? Es ist nicht unbedingt Hellsehen gefragt, aber doch ein wenig Vorausschau. Die kann sich der Mittelstand am besten holen, wenn er verfolgt, was in den Gremien des VDMA und ZVEI in Sachen Manufacturing- oder Factory-X passiert. Bis solche Plattformen relevant werden, sollten sich die Unternehmen – insbesondere auch im Mittelstand – weiter auf die Verschlankung und Modernisierung der eigenen IT-Architektur konzentrieren sowie Kapazitäten und Know-how für die Teilnahme an digitalen Datenräumen aufbauen. Nur wer sich entsprechend vorbereitet, wird in der Lage sein, eine vitale Rolle in digitalen Wertschöpfungsketten zu spielen, deren Fokus außerhalb der Fabriktore liegt. In jedem Fall darf keine Zeit verloren werden, um sich auf diese tiefgreifende Art und Weise einer völlig neuen Datenökonomie vorzubereiten, sowohl intern als auch nach außen in Richtung externer Ökosysteme.